Rente / 01.12.2021

Expertenstreit wegen Altersvorsorge für Selbstständige

Regierungsberater für Rentenpolitik können sich nicht auf eine einheitliche Position zum nötigen Sicherungsumfang von Unternehmern einigen.

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Berlin/Bad Homburg (sth). Seit Jahren zeigt sich die Spitze der Deutschen Rentenversicherung (DRV) in diesem Punkt öffentlich einig: Die etwa drei Millionen Selbstständigen hierzulande, die weder Mitglied in einem berufsständischen Versorgungswerk noch in der Rentenversicherung sind, sollen künftig zur Altersvorsorge verpflichtet werden. Grund für die scheinbare Einigkeit der Rentenfachleute in dieser Frage sind wissenschaftliche Erhebungen, die seit Jahren bei vielen – vor allem allein tätigen – Selbstständigen eine unzureichende Versorgung im Alter feststellen.

Doch jetzt zeigt sich: Wenn es um die Details einer gesetzlichen Regelung zu einer solchen Altersvorsorgepflicht geht, liegen Arbeitgeber und Gewerkschaften, die über die Selbstverwaltung bei den Rentenversicherungsträgern in der Rentenpolitik ein gewichtiges Wort mitzusprechen haben, noch immer weit auseinander. Das geht aus dem am Dienstag veröffentlichten Gutachten des Sozialbeirats der Bundesregierung zum jährlichen Rentenversicherungsbericht hervor, der erst in der vergangenen Woche vom Bundeskabinett verabschiedet worden war. Der 12-köpfige Beirat, der die Regierung in Rentenfragen berät, besteht aus je vier Vertretern der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite, drei Wissenschaftlerinnen und Forschern sowie einem Repräsentant der Bundesbank.

Umfassender Schutz nötig – oder Wahlfreiheit sinnvoll?

„Alle Selbstständigen, die bislang nicht obligatorisch abgesichert sind, (sollten) versicherungspflichtig in der gesetzlichen Rentenversicherung werden“, fordert die eine Seite des Beratergremiums – mutmaßlich des Arbeitnehmerlagers. „Bislang nicht obligatorisch abgesicherten Selbstständigen (sollte) bei Einführung einer Altersvorsorgepflicht die freie Wahl gelassen werden, ob sie über die gesetzliche Rentenversicherung oder privat vorsorgen“, heißt es aus dem anderen Lager. Beide Seiten wussten zum Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens möglicherweise noch nicht, dass sich die wahrscheinlichen Ampel-Regierungspartner zur gleichen Zeit in dieser Frage schon geeinigt hatten. 

„Wir werden für alle neuen Selbstständigen, die keinem obligatorischen Alterssicherungssystem unterliegen, eine Pflicht zur Altersvorsorge mit Wahlfreiheit einführen“, schreiben SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Liberalen in ihrem Koalitionsvertrag, der in der vergangenen Woche beschlossen wurde und in der kommenden Woche besiegelt werden soll. Und weiter: Selbstständige seien künftig automatisch „in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert, sofern sie nicht im Rahmen eines einfachen und unbürokratischen Opt-Outs ein privates Vorsorgeprodukt wählen. Dieses muss insolvenz- und pfändungssicher sein und zu einer Absicherung oberhalb des Grundsicherungsniveaus führen.“  

Besonders der letztgenannte Punkt dürfte vielen Altersvorsorge-Fachleuten heftige Bauchschmerzen bereiten. Denn eine Komplettabsicherung für das Alter, das Erwerbsminderungsrisiko und zum Schutz der Familie, wie sie die Rentenversicherung bietet und die im Vertrag der bisherigen schwarz-roten Koalition zumindest angedeutet war, ist in der Vereinbarung der Ampel-Parteien in weite Ferne gerückt. Man könnte es so sehen: Aus Sicht von SPD und Grünen ist die Altersvorsorge der Selbstständigen offenbar nicht so wichtig, dass man dafür die mögliche Regierungsbeteiligung aufs Spiel setzen wollte. Man könnte auch sagen: Ein erster Punktsieg für die FDP und das Arbeitgeberlager. Die kommenden Monate werden zeigen, welche Schwerpunkte die neue Bundesregierung in der Alterssicherungspolitik setzen will.  

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Autor

Stefan Thissen