
Das Rehawissenschaftliche Kolloquium steht diesmal unter dem Motto „Reha bewegt“. Mit Blick auf das Programm dieses Kongresses könnte es aber genauso gut „Reha bewegt sich“ heißen. Es gibt viele Neuerungen.

Gerhard Witthöft: Das ist richtig. Das Flexirentengesetz hat Präventions- und Nachsorgleistungen jetzt zu Pflichtleistungen gemacht. Ebenso die Kinder- und Jugendreha. Zuvor waren es Kannleistungen der Rentenversicherung. Solche Gesetzänderungen sind wichtig, um Weiterentwicklungen in der Reha zu ermöglichen.
Verstehen Sie die neuen Aufgaben auch als eine Aufwertung der Reha durch den Gesetzgeber?
Gerhard Witthöft: Wir verstehen das durchaus so. Die Rentenversicherung soll so in die Lage versetzt werden, möglichst früh zu helfen. Wir wollen vor allem Chronifizierungen von Krankheiten vermeiden.
Aber auch die Nachsorge ist zentral: Drei Wochen in der Rehaklinik rufen noch keine Lebensstiländerung hervor. Durch die Gesetzänderung können wir jetzt mehr Angebote zur Nachsorge im Anschluss einer Reha machen – das ist wichtig für die Nachhaltigkeit einer Rehamaßnahme.
Lohnt sich Prävention auch finanziell?
Gerhard Witthöft: Unsere Präventionsleistungen richten sich ja an Menschen mit ersten gesundheitlichen Problemen. Eine solche Leistung kostet maximal ein Drittel einer Rehamaßnahme. Wenn wir durch Prävention einen gesünderen Lebensstil oder das Vermeiden von bestimmten Belastungen erreichen, dann spart das der Versichertengemeinschaft viel Geld. Sie finanziert ja über ihre Beiträge diese Leistungen. Zudem verhelfen wir den Teilnehmern zu gesundheitsbewussterem Verhalten.
Der neue Leitgedanke heißt jetzt „Prävention vor Reha“. Mit Blick auf die Fallzahlen muss man aber doch feststellen, dass die Prävention noch ein recht zartes Pflänzchen ist, oder?
Gerhard Witthöft: Leider. Wir haben es bislang nur geschafft, mit großen Arbeitgebern Präventionsprogramme zu gestalten, die sehr erfolgreich sind. Von kleineren Unternehmen oder Versicherten kommen aber kaum Anträge auf Präventionsleistungen.
Woran liegt das?
Gerhard Witthöft: Das Standardprogramm für die Prävention sieht vor, dass die Teilnehmer zunächst eine Woche zusammen in einer Rehaeinrichtung verbringen. Eine Woche Ausfall ist für kleinere Unternehmen ein K.-o.-Kriterium. Kleine Firmen können zum Beispiel nicht so lange auf einen Meister verzichten. Deswegen brauchen wir noch mehr Flexibilität.
Für Bauarbeiter haben wir eine Lösung gefunden: Im Sommer sind sie viel beschäftigt. Deswegen legen wir die Termine in der Rehaeinrichtung bewusst auf auftragsschwache Monate im Herbst und Winter. Diese Kurse sind voll. Wir müssen aber künftig noch mehr flexible Angebote schaffen.
Viele Versicherte und Firmen denken bei Prävention ja eher an die gesetzlichen Krankenkassen: Wie grenzen sich die Leistungen der DRV von den Präventionsangeboten der Kassen ab?
Gerhard Witthöft: Wir betreiben bereits verstärkte Öffentlichkeitsarbeit, um unsere Präventionsleistungen bekannter zu machen. Im Unterschied zur Krankenkasse dauern unsere Leistungen länger und sind intensiver. Es sind auch verschiedene Fokusse: Bei der Krankenkasse geht es rein um die Gesundheit, bei der Rentenversicherung zusätzlich auch um den Beruf und die Erwerbsfähigkeit.
Bei der Kinder- und Jugendreha machen sinkende Antragszahlen allen Beteiligten große Sorgen. Woran liegt es, dass scheinbar immer weniger Eltern bereit sind, ihre Kinder in eine Reha zu schicken?
Gerhard Witthöft: Auch hier liegt es sicher an Informationsdefiziten: Die Kinder- und Jugendreha wird oft mit Mutter-Kind- beziehungsweise Vater-Kind-Kuren verwechselt, die ja die Krankenkassen zahlen. Noch zu viele Kinderärzte denken zuerst an diese Kur-Angebote, nicht aber an die Kinder- und Jugendreha.
Andererseits sinken die Antragszahlen auch einfach deshalb, weil es immer weniger Kinder gibt. Doch wir beobachten, dass die Kinder, die zu uns in die Kliniken kommen, kränker sind als früher. Sie müssten eigentlich besonders frühzeitig in Kinderreha gehen.
Auch das Elternverständnis ist heute ein anderes: Mehr noch als früher drängen sie darauf, als Begleitperson in der Klinik aufgenommen zu werden. Hier wurde reagiert: War die Begleitung bislang nur bis zum achten Lebensjahr möglich, ist die Altersgrenze mittlerweile auf das zwölfte Lebensjahr gestiegen. Bei einigen Indikationen – wie etwa bei Essstörungen oder Übergewicht – ist das auch sehr sinnvoll, weil man die Eltern braucht, um beim Kind eine Lebensstiländerung herbeizuführen.
Sie wollen hier einen neuen Weg beschreiten und planen ein Pilotprojekt mit Kinderärzten. Was haben Sie vor?
Gerhard Witthöft: Wir planen, dass Kinderärzte einer bestimmten Region eine Kinder- und Jugendreha genauso verordnen können, wie eine Mutter-Kind-Kur. Das Modellprojekt wird natürlich wissenschaftlich begleitet, um sicherzustellen, dass dann auch die „richtigen“ Kinder in der Reha landen – also z. B. Kinder mit beginnenden chronischen Krankheiten oder starkem Übergewicht. Wir erhoffen uns durch dieses Projekt einen höheren Bekanntheitsgrad der Kinder- und Jugendreha unter Ärzten.
Eine weitere Aufgabe, die der Gesetzgeber im Präventionsgesetz der DRV gestellt hat, ist die Entwicklung eines berufsbezogenen Gesundheits-Checks für Versicherte ab 45 Jahre. Wie weit ist die DRV da?
Gerhard Witthöft: Derzeit sind drei bis vier Pilotprojekte deutschlandweit am Start. Wir planen ein Projekt in Oberbayern. Dort wollen wir im Rahmen der Checks eruieren, ob bei einzelnen Versicherten Bedarf für eine Präventionsleistung, eine Reha oder z. B. für technische Ausstattungen am Arbeitsplatz besteht, die dafür sorgen, seine Erwerbstätigkeit langfristig zu erhalten
Auch hier gilt: je früher wir bei beginnenden Leistungseinschränkungen eingreifen können, desto höher ist der Erfolg bei der Erhaltung des Leistungsvermögens.
Auch die Digitalisierung hat im Programm des Reha-Kolloquiums Spuren hinterlassen: Es gibt immer mehr computergestützte Programme – insbesondere in der Nachsorge. Wo sehen Sie die Vorteile solcher internetbasierter Programme, wo die Grenzen?
Gerhard Witthöft: Wir haben schon seit 2005 Erfahrung mit digitalen Nachsorgeangeboten in der orthopädischen Rehabilitation. Es gibt einige Regionen, in der eine Standard-Nachsorge nicht möglich ist, weil die Entfernungen zu groß sind. Die Nachsorgeeinrichtung sollte innerhalb von max. 45 Minutern erreichbar sein.
Ein Nachteil der digitalen Nachsorge ist die mangelnde Face-to-Face-Betreuung während der Übungen. Zudem kommen ältere Versicherte mit der Technik weniger gut klar als jüngere. Dennoch wird es künftig sicherlich mehr digitale Angebote geben. Wir überlegen etwa, ob wir Schlaganfallpatienten eine digitale logopädische Nachsorge anbieten können. Sie sehen, die Reha bewegt sich also auch hier weiter.
Vielen Dank für das Gespräch.