
Berlin (sth). Die im vergangenen Jahr beschlossene erneute Verbesserung der Erwerbsminderungsrenten (EM-Renten) birgt nach Ansicht von Fachleuten Tücken und muss ihre wirtschaftliche Bedeutung noch nachweisen. Wie der Berliner Rentenexperte Johannes Steffen in einer aktuellen Kurzstudie zeigt, sind neu bewilligte EM-Renten seit dem Rentenpaket von 2014 zwar wieder deutlich gestiegen – und haben nominal 2017 erstmals wieder die Höhe des Jahres 2000 erreicht. Aufgrund einer grundlegenden Reform der Renten für Erwerbsgeminderte zur Jahrhundertwende und eines damit verbundenen "Sinkflugs" seien neu bewilligte EM-Renten des Jahres 2018 real aber immer noch "um ein Fünftel niedriger" als erstmals im Jahr 2000 gezahlte EM-Renten, zeigt Steffen anhand eigener Berechnungen.
Der Absturz der Höhe von EM-Renten in den vergangenen beiden Jahrzehnten gehe auf ein ganzes "Bündel unterschiedlicher Ursachen" zurück, erläutert Steffen in seiner Expertise. Dazu zähle etwa die Einführung von – bis heute umstrittenen – Abschlägen von oft 10,8 Prozent auf den rechnerischen vollen Rentenanspruch. EM-Renten beginnen im Schnitt etwa 12 Jahre früher als die regulären Altersrenten. Sehr viel bedeutsamer für den langjährigen Abwärtstrend seien jedoch die "soziodemografischen Strukturveränderungen" bei den Erwerbsgeminderten, erläutert der Experte. Dazu gehören nach seinen Analysen der gestiegene Anteil von Frauen unter den EM-Rentnern, stark rückläufige Beitragszeiten und niedrigere Einkommen bei den Männern sowie eine größere Bedeutung von Langzeitarbeitslosigkeit.
Längere Zurechnungszeit allein reicht nicht
Deshalb lasse sich allein durch die seit 2014 beschlossene mehrfache Verlängerung der sogenannten Zurechnungszeit eine nachhaltige Trendumkehr "vermutlich nicht erreichen", schreibt Steffen. Die Zurechnungszeit verlängert die Versicherungszeit chronisch kranker Beschäftigter, die nicht weiter arbeiten können, seit Jahresbeginn rechnerisch bis zur aktuellen Regelaltersgrenze – die in diesem Jahr bei 65 Jahren und acht Monaten liegt. Nach Ansicht Steffens müsste für eine Rückkehr zum früheren Leistungsniveau der EM-Renten für die vielfach im Niedriglohnbereich beschäftigten Frührentner die seit 1992 abgeschaffte "Rente nach Mindestentgeltpunkten" rückwirkend wieder eingeführt werden. Zudem sollten Zeiten der Langzeitarbeitslosigkeit wieder – wie vor 2011 – bewertet werden, fordert Steffen.
Als problematisch könnte sich nach Ansicht des Berliner Rentenfachmanns angesichts der verlängerten Zurechnungszeit allerdings eine Abschaffung der Rentenabschläge erweisen, wie sie von Sozialverbänden seit Langem gefordert wird. Zwar seien die Abschläge grundsätzlich "nicht vertretbar", da der frühzeitige Rentenbeginn von den Betroffenen "ja nicht beeinflusst werden" könne, urteilt Steffen. Angesichts der künftig noch deutlich längeren Zurechnungszeit für neu Erwerbsgeminderte – bis zum 67. Lebensjahr bei Rentenbeginn 2029 – wäre die völlige Abschaffung der Rentenabschläge jedoch "mit neuen Verwerfungen verbunden", warnt er.
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Kurzstudie des Berliner Rentenexperten Johannes Steffen zur Entwicklung der Erwerbsminderungsrenten (im pdf-Format)
Kommentierte Infografik des IAQ an der Universität Duisburg-Essen zu den Erwerbsminderungsrenten